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Die Regentrude Die Regentrude
Die Regentrude

Dimitrij Schaad

liest „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist

Dreißig Jahre alt war Kleist, als seine erste Erzählung im September 1807 in der Zeitung „Morgenblatt für gebildete Stände“ erschien: „Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahre 1647“. Es war die Zeit einer historischen Katastrophe, einer sozialen Zerrüttung und Auflösung der bestehenden Ordnung als Kleist über eine Naturkatastrophe schreibt. Nach dem Erdbeben in Santiago de Chile brach am 13. Mai 1647 Panik in der Bevölkerung aus: das apokalyptische Ereignis wurde als Strafe Gottes für menschliche Sünden verstanden. Ein Jahrhundert später, am 1. November 1755, erschütterte das Erdbeben von Lissabon Europas aufgeklärte Gesellschaft: Gibt es einen Zusammenhang moralischer und natürlicher Übel? Theologie, Philosophie und Wissenschaften kämpfen um die Deutungsmacht der Katastrophe. Ist ein allmächtiger, allwissender und gütiger Gott angesichts der Existenz des Leidens und des Bösen in einer offensichtlich unvollkommenen Welt zu rechtfertigen? Kleists Erzählung von Jeronimo und Josephe ist die einer scheiternden Liebe in einer scheiternden Gesellschaft – von der Apokalypse über das Paradies ins Inferno. Das Erdbeben setzt alle gesellschaftlichen Ordnungen außer Kraft: der Palast des Vizekönigs, der Gerichtshof, die Kathedrale, das Kloster, das Gefängnis, alle öffentlichen Herrschaftsgebäude fallen in Schutt und Asche. Die Überlebenden der Katastrophe versammeln sich in einem Tal zu einer paradiesischen Gemeinschaft. Die Idylle trügt und schlägt um: Die friedlichen Menschen verwandeln sich in eine mordgierige Masse, die Lynchjustiz übt. Schockierend, spektakulär, irritierend, provozierend. Ein Text zu Rage und Respekt. Ein Text, der bis heute den Sinn erschüttert, das Bewusstsein erbeben lässt. Das Beben der Darstellung selbst. Es liest Dimitrij Schaad, einem großen Publikum bekannt durch die Kinoverfilmung des Bestsellers „Die Känguru-Chroniken“ und den Streaminghit „Kleo“.

Foto: Stephan Rabold

Dauer: 1 Std. 30 Min.
keine Pause