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Politisch, international, diskursiv, unterhaltsam. Ruhrfestspiele 2023 enden am Sonntag

09.06.2023

Mit Vorstellungen von Shakespeares „Macbeth“, Sibylle Bergs „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“, Sung Im Hers „Nutcrusher“ und einem „Ausklang auf dem Grünen Hügel“ enden am Wochenende die Ruhrfestspiele 2023.

Unter dem Motto „Rage und Respekt“ boten die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Plattform für national und international drängende Themen verbunden mit auch unterhaltenden Programmpunkten und luden zu einem Theaterfestival mit richtungsweisenden Schauspiel-, Tanz- und Produktionen des Neuen Zirkus aus der ganzen Welt, Literatur und Musik, und einem genreübergreifenden Kinder- und Jugendtheater. Stars ihres Fachs, wie Regisseur Simon McBurney, die Schauspielerinnen Kathryn Hunter und Isabella Rossellini und Musiker Volker Bertelmann alias Hauschka waren zu Gast. Viele der rund 90 Produktionen befassten sich künstlerisch ausdrucksstark mit dem menschlichen Miteinander und fragten danach, wie viel Rage unsere Gesellschaft verträgt und wie viel Respekt es braucht für ein gemeinschaftliches Zusammenleben. Anspruchsvolles Programm mit Unterhaltung und sensiblem Diskurs über wichtige gesellschaftliche Themen zu verbinden, prägte die Stimmung der sechswöchigen Festivalzeit.

Olaf Kröck: Es waren besondere Ruhrfestspiele: inhaltlich intensiv, künstlerisch und thematisch hoch engagiert. Der große Publikumszuspruch hat deutlich gemacht, wie bereit und offen unsere Besucher*innen sind, sich den herausfordernden und mitunter schwer aushaltbaren Themen, die auf der Bühne verhandelt wurden, zu stellen. Und wie groß gleichzeitig die Lust ist, sich vom Theater und seiner ästhetischen Vielfalt bewegen zu lassen. Sichtlich gerne sind sich Publikum und Künstlerinnen und Künstler begegnet. Das hat die Atmosphäre der diesjährigen Festspiele ausgezeichnet.

Das Festivalmotto „Rage und Respekt“ wurde in zahlreichen einzelnen Produktionen im Festival sichtbar, so bereits in der Eröffnungsinszenierung – der Deutschlandpremiere und Koproduktion mit Complicité „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ nach dem Roman von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in der Regie von Simon McBurney. Kathryn Hunter in der Rolle der Hauptfigur verkörperte die kompromisslose Durchsetzung von Janina Duszejkos ökologischem Anspruch kongenial. Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber appellierte in ihrer eindringlichen Eröffnungsrede an die notwendige, unabwendbare Verantwortung jedes Einzelnen angesichts der großen und vielfältigen Herausforderungen unserer Gegenwart.

Ins Zentrum des diesjährigen Spielplans stellten Olaf Kröck und sein Team politisch motivierte Inszenierungen. Der gewaltlose Kampf der Tibeter*innen um den Erhalt ihrer Kultur, Sprache und Identität war Hintergrund von „Pah-Lak“ des indischen Dramatikers Abhishek Majumdar. Die Europapremiere fand als Koproduktion mit dem Tibet Theatre und dem Tibetan Institute of Performing Arts Dharamsala bei den Ruhrfestspielen statt und führte dem Publikum auf eindringliche Weise die Leiden der tibetischen Gesellschaft vor Augen. Jede der drei Vorstellungen endete mit einem Publikumsgespräch, das einen Austausch zwischen den tibetischen Spieler*innen, dem tibetischen Regisseur Lhakpa Tsering, dem deutschen Koregisseur Harry Fuhrmann und dem Publikum ermöglichte und einen Dialog initiierte.

Die Uraufführung „AND NOW HANAU“ von Tuğsal Moğul fand mit sechs ausverkauften Vorstellungen im Großen Sitzungssaal des Recklinghäuser Rathauses statt. Moğuls dokumentarisches Theater leistet Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit. Die Aufführung ließ die Perspektive der Opfer zu Wort kommen und machte die Defizite staatlicher Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit schmerzlich sichtbar. Während der Aufführungsserie gab ein Podiumsgespräch mit der Initiative 19. Februar Hanau den Überlebenden und Hinterbliebenen Raum und dem Publikum die Möglichkeit mit ihnen unmittelbar ins Gespräch zu kommen.

In dem politischen Festivalkontext sind zudem die Aufführungen von „Der Wij“ in der Regie von Kirill Serebrennikov (Thalia Theater) zu nennen, aber auch die neue Arbeit des indischen Theatermachers Abhishek Thapar. In „Lacuna Kitchen“ lud er das Festivalpublikum zu einem theatralen Experiment ein, das gängige Sichtweisen auf den Restaurantbetrieb hinterfragte und die in der Küche Arbeitenden ins Zentrum stellte. Das Büro für Eskapismus konzipierte mit „Wer warst du, E.?“ eine Reise in die Geschichte Recklinghausens zur Zeit des Nationalsozialismus und öffnete mit seinem Audiowalk neue Wege des Rezipierens und Erlebens von Geschichte – ein interaktiver Teil politischer Bildung für Besucher*innen, zu denen auch zahlreiche Schulgruppen gehörten.

Zudem zeigten die Ruhrfestspiele u. a. als Deutschlandpremiere die letzte Regiearbeit von Peter Brook „Tempest Project“, als Uraufführung „Phädra, in Flammen“ von Nino Haratischwili in der Regie von Nanouk Leopold, und vom inklusiven RambaZamba Theater „Einer flog über das Kuckucksnest“, inszeniert von Leander Haußmann.

Im Tanz und im Neuen Zirkus standen auch in diesem Jahr internationale Choreograf*innen und Gruppen im Zentrum. Zu sehen waren u. a. „Soul Chain“ von Sharon Eyal (tanzmainz), die Europapremiere der Stephanie Lake Company „MANIFESTO“, „Humans 2.0“ von Circa Contemporary Circus unter der Leitung von Yaron Lifschitz und „PLI“ von der Zirkuskünstlerin Inbal Ben Haim.

Gäste aus dem Bereich Literatur waren u. a. mit thematisch in den Spielplan eingebetteten Lesungen und Gesprächen Judith Hermann, Mithu Sanyal und Christoph Ransmayr sowie die Schauspieler*innen Paula Beer, Fritzi Haberlandt und Devid Striesow. Mit einer Zwischenausgabe von „Resonanzen“, kuratiert von Sharon Dodua Otoo und Patricia Eckermann, boten die Ruhrfestspiele auch 2023 eine Plattform für Schwarze deutschsprachige Belletristik. 2024 wird das Festival im Festival wieder zu einer mehrtägigen Veranstaltung einladen.

Die Ruhrfestspiele danken allen beteiligten Künstler*innen und ihrem Publikum für sechs Wochen facettenreiche und lebendige Bühnenkunst, mutige theatrale Setzungen, große Unterhaltung, Applaus und Standing Ovations, Mitlachen und Mitweinen, Diskutieren und Zuhören, Feiern und Beisammensein.

Kurz vor Ende der diesjährigen Festspiele haben nach aktuellem Stand gut 50.000 Besucher*innen die Vorstellungen der Ruhrfestspiele besucht, bei etwa 60.000 Karten im Verkauf entspricht dies einer Auslastung von knapp 83 Prozent, nicht mitgerechnet rd. 65.000 Besucher*innen des Kulturvolksfestes am 1. Mai. Neben dem Recklinghäuser und regionalen Publikum kam das Publikum aus dem gesamten Bundesgebiet und aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland.


Zitate der Aufsichtsratsvorsitzenden der Ruhrfestspiele zum Abschluss der Ruhrfestspiele 2023

„Gemäß dem diesjährigen Motto ‚Rage und Respekt‘ ging es auf der Bühne um Triebfedern gesellschaftlicher Veränderung und die Frage, wie viel Mut nötig und wie viel Wut konstruktiv ist. Ob Krieg und Frieden, Gerechtigkeit, Rassismus, Unterdrückung, In- oder Exklusion – das Angebot hat die Besucherinnen und Besucher konfrontiert und hoffentlich auch aktiviert, die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen wie politischen Herausforderungen stets auch als die eigenen zu begreifen und nicht anderen zu überlassen. Bespielhaft dafür stehen die eindringliche Eröffnungsrede von Anne Weber über die notwendige Verantwortung jedes Einzelnen, die Lesung von Hélène Berrs ‚Pariser Tagebuch 1942-44‘ und die Uraufführung von Tuğsal Moğuls ‚AND NOW HANAU‘.“
Stefan Körzell, 1. Aufsichtsrat-Vorsitzender der Ruhrfestspiele und Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes

„Auch in diesem Jahr ist es dem Team der Ruhrfestspiele gelungen, ein rundherum sehenswertes Kulturfestival auf die Beine zu stellen, das seinem Ruf als eines der renommiertesten der Welt einmal mehr gerecht wird. In dem Programm unter dem Titel „Rage und Respekt“ fanden sich allesamt hochkarätige Produktionen und Veranstaltungen, die die Besucherinnen und Besucher zurecht – nicht nur zum Kulturvolksfest am 1. Mai – in Scharen angelockt haben. Wieder einmal spüren wir ganz deutlich: Kultur tut gut!“
Christoph Tesche, stellvertretender Aufsichtsrat-Vorsitzender der Ruhrfestspiele und Bürgermeister der Stadt Recklinghausen