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Recklinghäuser Rede

von Judith Schalansky

Lange war das Ruhrgebiet für mich nichts anderes als ein feuerwehrrot gesprenkeltes Gebilde auf der Landkarte, die meine Geografielehrerin in der fünften Klasse eines Tages vor unseren Augen entrollte. Diese Karte zeigte ein vereintes Deutschland, dessen Umrisse mir noch nicht vertraut waren. Ein Land, das übers Jahr gewachsen war, um mehr als die Hälfte angeschwollen, wie einst dieser Ballungsraum, in dem aus mir damals unerfindlichen Gründen die Städte nicht klar voneinander abgegrenzt waren, sondern ineinander übergingen. Es erinnerte an einen Ausschlag oder vielmehr an eine offene Wunde im besänftigenden Grün der physischen Kartografie.
Dass die Erdoberfläche in dieser Region tatsächlich auf eine Weise wund war, durchlöchert von Schächten, Stollen und Gruben, voller unterirdischer Hohlräume, in denen eine wuselnde Schar von Arbeitern und Maschinen ihr Werk verrichteten, wusste ich nicht. Vom Bergbau selbst hatte ich kaum eine Vorstellung. Es gab höchstens ein paar Berührungspunkte in meiner Kindheit: So hieß in dem Kurort auf der Insel Usedom, wo ich regelmäßig die Ferien bei meinen Großeltern verbrachte, das erste Haus am Platz gleich gegenüber dem Hauptzugang zum Strand ›Glück auf!‹. Das Heim war wie viele andere im Ort den Arbeitern des Bergbauunternehmens IG Wismut vorbehalten, das an verschiedenen Stätten in Sachsen und Thüringen Uranerze für die sowjetische Atomindustrie abbaute. Drei Viertel der Urlauber waren Kumpel mit ihren Familien, die sich in jene aufteilten, die am sogenannten Textilstrand die Badebekleidung anbehielten, und jene, die sich weiter ab vom Zentrum der Freikörperkultur hingaben.
Der ganze Ort war in der festen Hand des Bergbauunternehmens. Anfang Juli wurde daher auch alljährlich groß ›der Tag des Bergmanns‹ begangen, mit Feuerwerk und Festveranstaltung auf der Waldbühne. Deshalb schwebt auch auf einem Foto von der Hochzeitsfeier meiner Eltern, die im Wismut-Ferienheim ›Roter Oktober‹ Kaffee tranken, das gemalte Portrait des Bergbau-Aktivisten Adolf Hennecke über dem Brautpaar. Dieser hatte 30 Jahre zuvor, als es die beiden deutschen Staaten noch nicht gab, aber schon diese Festspiele hier, eine inszenierte und vorbereitete Hochleistungsschicht absolviert, während der er in sieben Stunden 24 Kubikmeter Steinkohle mit dem Presslufthammer aus dem erzgebirgischen Flöz getrieben hatte.
Und der Maler und Bildhauer, dem ich als Jugendliche oft Modell saß, war in den Fünfziger Jahren Hauer in einem sächsischen Bleiwerk gewesen. Aus jener Zeit, in der ihm monatlich steuerfrei zwei Liter 32prozentiger Branntwein zustanden – der sogenannte ›Kumpeltod‹ –, waren ihm seine Vorliebe für Stein und für Alkohol geblieben.
Trotz dieser Erinnerungen bleibt festzuhalten: Das Land, in dem ich geboren wurde und dessen westliche Grenzen an der Landkarte nicht mehr auszumachen waren, war arm an Bodenschätzen. Die Braunkohle, aus der die Briketts gepresst waren, mit denen wir die Kachelöfen unserer Neubauwohnung heizten, stammte zu großen Teilen aus dem Lausitzer Tagebau, dessen Reviere keinen vitalen, urbanen Ballungsraum hinterließen, sondern die totale Verwüstung. Ihre Asche war pompejanischrot und legte sich als schmieriger Film auf Kleider, Tapeten und Möbel.
Die Tatsache, dass ich hier heute Abend stehe und einige Worte an Sie richten darf, ist also nicht auf eine Verwurzelung in der Region zwischen Ruhr und Lippe oder gar auf eine besondere Sachverständigkeit auf dem Gebiet des Montanwesens zurückzuführen, sondern wohl dem Umstand geschuldet, dass ich vor Kurzem ein Buch über verlorene Kultur- und Naturgegenstände veröffentlicht habe und seither offenbar als Expertin für Verluste gelte.
Und seien wir ehrlich, jetzt hier, bei der Eröffnung der Ruhrfestspiele, im ersten Jahr nach Schließung der letzten Zeche im Revier, ist es doch – allen wiederholten Ankündigungen und gegenteiligen Beschwörungen zum Trotz – ein Gefühl des Verlusts, das auch hier im Raum anwesend ist.
Etwas ist unwiederbringlich zu Ende gegangen, und der Umstand, dass es sich um ein unvermeidlichen und seit langer Zeit angekündigtes Ende handelt, bewahrt nicht davor, dass es einen, jetzt, da es tatsächlich gekommen ist, noch einmal mit voller Wucht trifft. Jeder kennt das aus anderen Verlusterfahrungen wie Trennungen oder Todesfällen. Selbst wenn es die Möglichkeit gab, Abschied zu nehmen, scheint es, als ob erst mit dem tatsächlichen Verlust zur Gänze erfahrbar werden kann, was genau eigentlich verloren gegangen, was genau zu betrauern ist. Denn das ist gar nicht so einfach zu beantworten: Nüchtern betrachtet handelt es sich in unserem Fall hier um vielseitige Zweige der Schwerindustrie, die mit ungeheurem Aufwand einen Energierohstoff fossilen Ursprungs aus der oberen Erdkruste kratzte und abbaute, veredelte und weiterverarbeitete und damit einer schier unfassbaren Menge von Menschen Arbeit bot. Aber es handelt sich auch um eine Ära, ja, einen ganzen Kosmos mit einer eigenen Kultur, mit ausdifferenzierten Sprechweisen und Werten, Sitten und Gebräuchen, kurzum: um eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, um ein Inselreich, das so exklusiv war wie intergrativ: Jeder – egal ob er aus Oberschlesien oder der Kaschubei, vom Peloponnes, dem Balkan oder aus Anatolien kam – jeder, der Arbeit suchte, konnte Mitglied dieses Inselstammes werden, in dessen Zentrum eben nichts anderes als diese Arbeit stand – die Zeche, das Werk. Eine Knochenarbeit, die – ob nun in der feuchtwarmen, stickigen Dunkelheit der Schachtanlagen oder in der gleißendglühenden Hitze an den Hochöfen – hart war, kräftezehrend, gesundheitsschädlich, lebensgefährlich, bestbezahlt. Und – das darf nicht vergessen werden – seit vielen Jahrzehnten hochsubventioniert. Die Geschichte des Ruhrbergbaus ist nicht zuletzt ein Beispiel dafür, dass etwas, selbst wenn es wirtschaftlich streng genommen sinnlos und ökologisch untragbar geworden ist, noch als überaus sinnvoll erachtet werden kann. Warum also stehen wir hier, ein wenig wie auf einer Beerdigung, und erzählen uns von früher? Darum stehen wir ein wenig hier wie auf einer Beerdigung und erzählen von früher? Weil es eben verdammt gute Geschichten sind, die diese Ära hervorgebracht hat. Es sind Geschichten von Verwandlungen, in denen noch immer die alten alchemistisch-magischen Vorstellungen fortleben. Sie besagen, dass sich Materie verwandeln lässt, dass Stoffe in andere umgewandelt werden können: von etwas Unedlem in etwas Edles, von etwas Unreinem in etwas Reines, von etwas Niederem in etwas Höheres. Denn was lehrt die Geschichte des Ruhrbergbaus anderes, als dass sich aus Kohle sehr wohl Gold machen lässt? Schließlich war es das schwarze Gold, das diese Region von einer dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten Sumpflandschaft in einen industriellen Ballungsraum verwandelte, jenes schwarze Gold, mit Hilfe dessen sich Eisen zu Stahl, Wasserdampf zu Strom verwandeln lässt und einfache Proletarier Protagonisten einer glänzenden, heroischen Erzählung von Ehrgefühl, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Gemeinschaft werden konnten. Das Ruhrgebiet war ein Ort, an dem ein Merkmal des Proletariats – seine Traditionslosigkeit und Überlieferungsunfähigkeit – nicht nur nicht zutraf, sondern in sein Gegenteil verkehrt wurde: In einen aufgeladenen mythischen Raum, den wir bis heute beschwören.
Seine ikonischen Bilder haben wir alle vor Augen: die nackten, nassgeschwitzen, vom Kohlenstaub schwarzen Körper der Kumpel, knieend im Streb schuftend, ihre weiß blitzenden Augen im rußverschmierten Gesicht, eine solidarische, streikende, demonstrierende Menge, die sich durch Gewerkschaften Gehör verschaffte und gemeinsam kämpfte: für bessere Arbeitsbedingungen, für höhere Löhne, zuletzt für den Erhalt ihrer Zeche.
Das schweigende Pendant dieser Fotografien sind die menschenleeren Bildtafeln Bernd und Hilla Bechers, die bereits aus einer Verlusterfahrung heraus entstanden sind: Darin hielten die Bechers fotografisch die Hinterlassenschaften einer industriellen Gebrauchsarchitektur fest, bevor diese endgültig dem Abriss oder dem Verfall zum Opfer fielen, und ordneten sie streng nach der Anatomie ihres Erscheinungsbildes, ihrer Formen und Funktionen: all die massigen Kohlebunker und konkaven Kühltürme, die zylindrischen Getreidesilos und quaderförmigen Maschinenhallen, die phallischen Wassertürme und atomkugeligen Gasometer, die Röhrenlabyrinthe der Hochöfen und die hoch aufragenden Räder der Fördertürme, die immer größer wurden, je tiefer die Flöze lagen. Paradoxerweise offenbart sich gerade im seriellen Vergleich überhaupt erst die spezifische Individualität jeder Anlage.
Sowohl die Bilder der Kumpel als auch die Fotografien ihrer verlassenen Arbeitsstätten erinnern an eine Zeit, in der Arbeit noch etwas hochgradig Körperliches, Mechanisches und Analoges war. Die physikalische Gleichung Leistung ist gleich Kraft durch Zeit wird an ihnen begreifbar und anschaulich. Ja, die allgegenwärtige, sinnlich erfahrbare Präsenz dieser Prozesse – den Schweiß der Kumpels, den Ruß auf den Körpern, die Rauchschwaden über den Schloten, den Gestank der verseuchten, kanalisierten Flüsse und den schwefeligen, eisenhaltigen Geschmack der Luft – verwandelte diese Region in einen theatralen Raum, in dem Arbeit permanent überall und unaufhörlich vor Augen geführt, ja aufgeführt wurde und selbst nach dem Beginn des Zechensterbens durch seine Relikte anwesend blieb. Nicht von ungefähr verglich Heinrich Hauser in seiner prägenden Reportage ›Schwarzes Revier‹ von 1930 die Spannung beim Verfolgen der Abläufe einer Fertigungsstraße im Drahtwalzwerk mit jener, die einen gefangen hält, wenn man »gute Akrobaten auf der Bühne eines Varietés« bestaunt.
Was jetzt zu Ende gegangen ist, ist also nicht nur die ökonomische Wertschöpfung eines Industriezweigs, sondern auch eine lebendige, stetig gewachsene Kultur, eine unermesslich reiche Lagerstätte, ein schier unendliches Flöz von Tradition und Sinnstiftung, das womöglich erst jetzt, da seine konkreten Reserven erschöpft sind, seine ganze mythische Energie freisetzen wird. Wenn die Realien schwinden, gedeiht der Mythos.
Beinahe scheint es, als hätte es keine Geschichte vor dem Bergbau gegeben, so sehr ist er zur prägenden, identifikatorischen Erzählung dieser Region geworden. Eine moderne Sage, die jene Geschichten verdrängt hat, die man sich aus der Zeit vor dem Teufbeginn auf den Grubenfeldern erzählte, als in dieser dünn besiedelten Gegend noch versprengte Herden von Wildpferden durch die sumpfigen Emscherbrüche trabten und Schäfer ihre Herden durch das öde Heideland trieben. Die Sagen dieser Zeit handeln von verborgenen Schätzen auf alten Rittergütern und von im Morast versunkenen Schlössern, von Frauen, die der Hexerei angeklagt werden und von tollwütigen Hunden, von hungrigen Hünen und winzigen Lohmännchen mit feurigen Augen. Auch unermesslich reiche Germanenkönige und arme Spökenkieker bevölkern diese Sagen. Eine handelt von einem Schäfer, der die Zukunft sehen konnte. Dieser Schäfer erzählte einmal, als er abends bei den Bauern saß, dass eines Tages unheimliche Tiere mit großen leuchtenden Augen und dampfenden Nüstern kommen und durch die Gälkenheide bei Dorsten ziehen werden. Der Himmel würde vom Dampf dieser wilden Tiere verdunkelt werden und sogar die Sonne verdecken. Den Bauern, so heißt es, wurde angst und bange. Erst ihre Kindeskinder sollten erkennen, dass er die Eisenbahn und die Zeche in Herverst gemeint hatte, den Beginn des Maschinenzeitalters also beschrieben hätte, an dessen Ende wir heute stehen.
Die Sage vom hellsichtigen Schäfer ist eine Flaschenpost aus einer Vergangenheit, in der das, was jetzt Vergangenheit ist, noch Zukunft war. Gern wüssten wir, ob der Schäfer ebenfalls gesehen hat, was nach der Zeit der schnaufenden Maschinenwesen kam. Ob er auch die zu künstlichen Seen gefluteten ehemaligen Stahlwerksareale vorhersagen konnte, die Wasserstädte und die begrünten Hügel ehemaliger Abraumhalden, die Freizeitanlagen und Naherholungsgebiete der Renaturierungsmaßnahmen, die man nicht nur ergriff, um den Raubbau an der Natur wiedergutzumachen, sondern auch weil sie oftmals die kostengüngstigste Form der Nachnutzung sind. Hat er die tausend Pumpen gesehen, die die abgesackten Siedlungen vor der Überflutung schützen und das Wasser aus den stillgelegten Gruben pumpen, damit es das Grundwasser nicht verunreinigt, all die zu Gewerbegebieten umgewandelten alten Zechen, in denen nun Dienstleister sitzen, die ihr Geld mit einer Arbeit verdienen, die – verglichen mit jener der Schwerindustrie – nebulös, gesichtslos und austauschbar erscheint – und die kaum noch als etwas Verbindendes, geschweige denn als etwas Identifikationsstiftendes erlebt wird?
Dieser Ort ist tatsächlich verwundet. Und die Leerstellen sind allgegenwärtig, ob nun als unverfüllte Hohlräume in der Tiefe der Erde oder als Lücken in Lebensläufen. Die Ruine ist ein utopischer Ort, ein Raum zwischen den Zeiten, in dem Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen anwesend sein kann. Dass eine Ruinenlandschaft, ein Ende, ein Nullpunkt ein guter Nährboden für neue Mythen sein kann, beweist nicht zuletzt jene historisch verbürgte Begebenheit, der wir zu verdanken haben, dass wir hier heute versammelt sind. Auch diese Geschichte wird gerne als eine märchenhaft anmutende Verwandlungsgeschichte erzählt, bei der Kohle zu Kunst wurde.
Es ist eine Geschichte, die so grandios ist, dass sie die Kraft hatte, eine Tradition zu begründen. Der Mythos ist fast zu schön, um wahr zu sein. Weil Geschichten im Gegensatz zu Nachrichten nicht die Aufgabe haben, uns Neues zu berichten, sondern uns Altes zu vergegenwärtigen, sei sie noch einmal in groben Zügen erzählt:
Ende 1946 machte sich eine Gruppe von Theaterleuten mit zwei holzgasbetriebenen Lkws von Hamburg aus auf den Weg ins Ruhrgebiet, um Kohle und Koks zu organisieren, woran zu jener Zeit weder mit Bezugsschein noch mit Geld zu kommen war, aber das sie dringend benötigten, da die Bühnenmaschinerien der Hamburger Theater irreperabel einzufrieren drohten. Als sie in der Ferne die ersten Fördertürme und Schlote einer Zeche erblickten, fuhren sie von Autobahn ab und fanden sich auf der Schachtanlage ›König Ludwig IV/V‹ in Recklinghausen-Suderwich wieder.
Man setzte sich in einer geheizten Stube zusammen, trank wärmenden Rübenschnaps und erklärte das Anliegen. Es heißt, dass einer der Hamburger Theaterleute den Betriebsobmann aus dem Widerstand kannte. Vielleicht spielte auch der Umstand eine Rolle, dass es sich bei dem Namenspatron der Zeche um den so theateraffinen wie theatralen bayrischen König Ludwig handelte. Wie dem auch sei: Die Bergleute hatten Verständnis für die Not der Künstler*innen. Ihre Bitte wurde erhört und die Lkws beladen. Eine ›Kohlenschieberei‹ hinter dem Rücken der britischen Besatzungsmacht. Dass diese Aktion illegal war und unter Strafe stand, erhöhte nur ihren Wert. Und sie sollte sich später noch einige Mal – dann sogar mit 20-Tonnen-Waggons der Bundesbahn und nach der Währungsreform halbwegs legalisiert – wiederholen und tatsächlich den Spielbetrieb für diesen Winter gewährleisteten. Ein Winter, der im Nordseeraum der strengste des gesamten Jahrhunderts werden sollte – ein Hungerwinter, mit Temperaturen bis zu minus 30 Grad Celsius und Hunderttausenden Todesopfern allein auf deutschem Gebiet.
Als die Hamburger bei der ersten Fuhre die Geldbörse zückten, winkten die Kumpels ab. Auch wenn Geld ohnehin keinen großen Wert in den Nachkriegsjahren hatte, war dies eine Sache der Ehre, der Solidarität. Es war also kein Geschäft, sondern eine Spende, eine Gabe. Und bei Gabe und Gegengabe wird nicht gefeilscht. Das unterscheidet sie vom Handel. Es wird gegeben und genommen.
Den Ethnolog*innen gilt die Gabe als der Usprung von Gesellschaft, eine kulturstiftende und kulturerhaltende Geste, die ökonomische, moralische, jedoch auch magische Aspekte berührt. Bei manchen Völkern, wie beispielsweise den Maori, besitzt jedes Ding eine geistige Macht, die weitergegeben wird, wenn die Sache seinen Besitzer wechselt. Die Empfänger*innen nehmen das Fremde mit der Annahme der Gabe in Kauf. Es bleibt ein mythologischer Rest lebendig, der auch bei den Hamburger Theaterleuten lebendig geblieben sein muss, als das Brennmaterial verheizt und der Frühling angebrochen war.
Beim Gabenaustausch sind die Grenzen zwischen obligatorisch und freiwillig fließend. Wie komplex diese Vorgänge sind, weiß jeder, der von seinen neuen Nachbarn einen Kuchen oder gar ein Dutzend frische Eier als Willkommensgeschenk erhält und sich nun darüber den Kopf zerbricht, mit welcher Gegengabe diese großzügige Geste angemessen vergolten werden kann. Nicht selten wird damit ein nicht enden wollender Kreislauf der Güter in Gang gesetzt. Und so geschah es auch hier in Recklinghausen, als eine 150-köpfige Delegation der drei Hamburger Bühnen – der Hamburgischen Staatsoper, des Thalia-Theater, des Deutschen Schauspielhauses – mit Thespiskarren Ende Juni 1947 anreiste, um sich mit einem fünftätigen Gastspiel zu bedanken. Gegeben wurden die Opern Figaros Hochzeit und Don Pasquale, ein zeitgenössiches Lustspiel und ein russischer Komödienabend mit Einaktern von Tolstoi und Tschechow. Die Einnahmen flossen in die Invalidenkassen der Zeche ›König Ludwig‹.
In allen menschlichen Kulturen sind es Kollektive, die sich durch den Gabentausch gegenseitig Respekt erweisen, Stämme, die sich durch den Austausch wechselseitig in die Pflicht nehmen. Was ausgetauscht wird, sind nicht nur Güter materieller, sondern oft immaterieller Natur: Höflichkeiten, Gelage, Feste, ja, Festspiele wie diese hier, »bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist«[1].
Was in Recklinghausen vor mehr als 70 Jahren ausgetauscht wurde, war weitaus mehr als ein materielles gegen ein immaterielles Gut – Kohle gegen Kunst. Es war eine Geste doppelter Solidarität, deren utopisches Potenzial und deren gesellschaftspolitische Dimension der sozialdemokratische Hamburger Bürgermeister Max Brauer sofort erkannte, als er schon im ersten Jahr »eine andere und neue Art der Festspiele« beschwor, »vor den Kumpels« statt vor »Auserwählten« – nicht im neobarocken, katholisch-restaurativen Salzburg, sondern eben in Recklinghausen, »inmitten der Stätten harter Arbeit«. Es sollten »Spiele der Arbeiter« werden, »eine Kultur der Teilhabe«, die sich vor allem auch in den Rahmenveranstaltungen wie den Invalidenkonzerten, Podien zum Thema ›Kultur und Arbeit‹, Volksfesten oder Ausstellungen von Laienkunst niederschlagen sollte. Die Slogans, die mir in den Festspielpublikationen begegneten, beschwören jedenfalls Kollektive, ein ›Wir‹-Gefühl, das mir aus der untergegangenen DDR vertraut ist, wenn es da heißt: »Ihr für uns und wir für euch.«
Die beiden Stämme, die hier etwas austauschten, entstammten klar getrennten Welten. Kulturschaffende und Bergarbeiter verband höchstens, dass sie in sich selbst geschlossene Kreise bildeten. Vielleicht ließen sich aber gemeinsame Ahnen ausfindig machen, wie etwa die Sklaven der römischen Antike, denen es genauso gut passieren konnte, dazu verurteilt zu werden, in den Bergminen und Steinbrüchen zu schuften oder aber in den Arenen auftreten und den Helden geben zu müssen.
Hier wie da ist es eine Arbeit in der Dunkelheit eines abgeschlossenen Raums, in dem alle Anwesenden für einige Stunden eine Gemeinschaft bilden und eine Erfahrung teilen. Das Beständige mag schön und tröstend sein. Theater und Bergbau sind jedoch von ihrem Wesen unbeständig. Jeder Abbau von Rohstoffen, jede Gewinnung von Bodenschätzen ist von Natur aus ein temporär angelegtes Projekt. Irgendwann ist jede Lagerstätte erschöpft, übersteigen die Mühen des Abbaus den Wert des Stoffes und die durch seine Gewinnung verursachten Schäden seinen Nutzen bei weitem.
Tatsächlich steht die Kohle dem Theater als Bedeutungsträger in nichts nach. Steinkohle ist genau genommen nichts anderes als verdichtete Zeit, eine Ablagerung, eine Gabe aus einer märchenhaft anmutenden Vorzeit, als schillernde Riesenlibellen zwischen den mächtigen Farnen und den Ästen der Bärlappbäume ausgedehnter Steinkohlewälder schwirrten und alle Erdmassen noch als ein einziger Superkontinent aneinanderklebten.
Alle Spiele erwachsen aus dem Kult, einem Kult der Verwandlung und des Vertrags, der seine Ursprünge im Opferritus hat. Das war ein Tauschverkehr mit jenen Göttern und Ahnen, die als wahre Eigentümer der Erde galten. Ihre Schätze waren nur geliehen und mussten durch kulturelle Handlungen vergolten werden.
»Ein Ethnologe«, schreibt Claude Levi-Strauss »hat vor dem Ritual stets den größten Respekt. Um so mehr, als die Wurzeln des Rituals in ferner Vergangenheit liegen. Er sieht darin ein Mittel, bestimmte Werte unmittelbar sichtbar zu machen; sie würden die Seele weniger unmittelbar berühren, wenn man versuchte, sie mit rein rationalen Mitteln durchzusetzen.«
Denn was, wenn nicht das Theater, das es ja erstaunlicherweise immer noch gibt, weil es eben ganz anderen als rationalen Gesetzen folgt, sollte ein solches Ritual beerben und erfahrbar machen, aus welcher Welt wir kommen, in welcher Welt wir leben und in welcher wir leben wollen?
Einige Lkw-Ladungen Wärme produzierendes Koks setzte ein Festspiel-Mobile in Gang, bei dem seither Energie verwandelt, gebunden und freigesetzt und hoffentlich noch verwandelt, gebunden und freigesetzt werden wird, wenn niemand mehr etwas von Steinkohle weiß. Wenn der Ursprung dieser Tradition im Dunkeln liegen, das Ritual dieser Festspiele jedoch fortleben und womöglich einmal die einzige Verbindung zu einer Zeit sein wird, in der die Menschen die Energie aus jahrzehntelanger Verbrennung fossiler Brennstoffe gegen eine Erwärmung des Klimas eintauschten und selbst dann nicht damit aufhören wollten, als sie erkannten, wie folgenschwer dieser Tausch war.
In einer Zeit der heißen Sommer, in der ein harter, strenger Winter wie der von 1946/47 kaum mehr vorstellbar ist, in einer Zeit, in der sieben Mal mehr Menschen die Erde bevölkern als zu Beginn der Industriellen Revolution, einer Zeit, in der Länder eines kleinen Kontinents ihr Heil in der Regression und Abschottung zu finden glaubt, in einer Zeit, in dem immer noch soziale gegen ökologische Verantwortung ausgespielt wird, als ob es Ersteres ohne Letzteres geben könnte, in einer Zeit der entfremdeten, digitalen Arbeit, in der viel von ›Sharing‹ die Rede ist, aber wenig von ›Teilhabe‹, ja, in einer Zeit, in der das Wort ›Solidarität‹ beinahe prähistorisch anmutet, heute also, stellt sich doch die Frage, was wir – jeder von uns, aber auch die Gemeinschaften, die wir bilden – zu geben haben. Und wo ließe sich diese Frage besser stellen als hier, bei diesem europäischen Theaterfestival, im ersten Jahr unter neuer Intendanz, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, zwei Begriffe miteinander zu verbinden, die viel zu lange verschiedenen Welten anzugehören schienen, obwohl sie doch einander so unendlich viel zu geben haben: Die Poesie und die Politik.

[1] Marcel Mauss, Die Gabe

© Judith Schalansky