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„Sie sind willkommen.“ Das ist der erste Satz für die vier Sprecher in Peter Handkes legendärem Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“. Claus Peymanns ebenso legendäre Uraufführungs-Inszenierung ist dokumentiert durch die Fernsehaufzeichnung des Hessischen Rundfunks 1966 aus dem Frankfurter Theater am Turm. Sie zeigt nicht nur die (das Publikum beschimpfenden) Schauspieler auf der Bühne, sondern schneidet zu gleichen Teilen immer wieder die unmittelbaren Reaktionen des Publikums gegen. Es ist ein Paradebeispiel für das intensive Zusammenspiel von Bühne und Zuschauer*innen, dafür, wie angewiesen beide Seiten aufeinander sind. Und es ist ein wertvolles Zeitdokument, das Portrait der Konventionen eines damaligen Theaterbesuches. Dabei ist Handkes Stück – anders als der Titel es scheinbar vorgibt – keine Beschimpfung des Publikums, sondern eine fundamentale Hommage an die Zuschauer*innen.

Eröffnungsabend 36 Foto Ana Córcoles Siegersbusch Eröffnungsabend 36 Foto Ana Córcoles Siegersbusch
Eröffnungsabend 36 Foto Ana Córcoles Siegersbusch

„Sie sind willkommen.“ Das ist der erste Satz für die vier Sprecher in Peter Handkes legendärem Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“. Claus Peymanns ebenso legendäre Uraufführungs-Inszenierung ist dokumentiert durch die Fernsehaufzeichnung des Hessischen Rundfunks 1966 aus dem Frankfurter Theater am Turm. Sie zeigt nicht nur die (das Publikum beschimpfenden) Schauspieler auf der Bühne, sondern schneidet zu gleichen Teilen immer wieder die unmittelbaren Reaktionen des Publikums gegen. Es ist ein Paradebeispiel für das intensive Zusammenspiel von Bühne und Zuschauer*innen, dafür, wie angewiesen beide Seiten aufeinander sind. Und es ist ein wertvolles Zeitdokument, das Portrait der Konventionen eines damaligen Theaterbesuches. Dabei ist Handkes Stück – anders als der Titel es scheinbar vorgibt – keine Beschimpfung des Publikums, sondern eine fundamentale Hommage an die Zuschauer*innen.

Szene des Stücks Publikumsbeschimpfung von Peter Handke, Regie: Claus Peymann. Aufführung 1966 Theater am Turm, Frankfurt am Main.

„Das Stück ist nicht geschrieben, damit das übliche Publikum einem anderen Publikum Platz macht, sondern damit das übliche Publikum ein anderes Publikum wird. Das Stück kann dazu dienen, dem Zuschauer seine Anwesenheit, gemütlich oder ungemütlich, bewusst zu machen, ihn seiner selbst bewusst zu machen. Es kann ihm bewusst machen, dass er da ist, dass er anwesend ist, dass er existiert. Im besten Fall kann es ihn nicht treffen, sondern betreffen. Es kann ihn aufmerksam, hellhörig, hellsichtig machen, nicht nur als Theaterbesucher.“
Peter Handke

Braucht es nicht eine Kultur des Publikums? Eine Kultur seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit? Räume, in denen es denken und Kritik üben kann? Orte, an denen es Versuche unternehmen kann, sich der Solidarität anderer zu versichern. Eine neue Kultur des Publikums, um uns miteinander zu verständigen, um uns selbst und damit die anderen verstehen zu können. Um zu einer gemeinschaftlichen Erzählung kommen zu können? (Das Verständnis voneinander wäre die Grundlage.)

Ausstellung Publikum Foto Maria Koltschin 29

Die Fotoausstellung „Sie stellen sich vor. Ansichten der Zuschauer”: Kleine Hommage an das Publikum: 75 Jahre Ruhrfestspiele in Fotografien ihrer Besucher, Ruhrfestspiele 2021

Das Publikum. Es sind die Details. Andeutungen. Auf den Fotos sehen wir Hände, Körper, Schultern, Beine, Gesichter. Kleider. Anzüge. Bewegungen, Haltungen, Energien. Die Geschichte der Körper. Sind Anzug, Erfahrung, soziale Formation und Funktion eins? Fallen sie auseinander?

Die Fotoausstellung „Sie stellen sich vor. Ansichten der Zuschauer”: Kleine Hommage an das Publikum: 75 Jahre Ruhrfestspiele in Fotografien ihrer Besucher.

Das Publikum. Es sind die Details. Andeutungen. Auf den Fotos sehen wir Hände, Körper, Schultern, Beine, Gesichter. Kleider. Anzüge. Bewegungen, Haltungen, Energien. Die Geschichte der Körper. Sind Anzug, Erfahrung, soziale Formation und Funktion eins? Fallen sie auseinander?

Das Publikum also. Die Entscheidung für das Thema der Fotoausstellung zum 75. Jubiläum steht für uns deutlich in einer Kontinuität zu dem von uns eingeschlagenen Weg, in einer Kontinuität, für die beispielhaft zwei Kunstprojekte der letzten Jahre stehen: mit ihnen haben wir ganz bewusst das Publikum in seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit ins Zentrum der Ruhrfestspiele gestellt. 2019 zeigten wir zum Auftakt der Ruhrfestspiele die Deutschlandpremiere von „What Is the City but the People?“, entwickelt nach einer Idee des britischen Konzept-Künstlers und Turner-Preisträgers Jeremy Dellers, in der Regie von Richard Gregory, das erstmals vom Manchester International Festival in Auftrag gegeben und produziert worden war. Und 2020 zeigten wir das von dem französischen Fotokünstler JR initiierte „Inside Out Project“ an der Glasfassade des Ruhrfestspielhauses. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die wir dabei machen durften und hatten, sind unvergessen und prägend. Sie bestärkten uns in der Entscheidung, mit der Fotoausstellung das Publikum in Augenschein nehmen zu wollen. Die Besucher. Wer sind sie? Wie sehen sie aus, und was zeichnet sie aus?

„What Is the City but the People?“, fragt bereits Shakespeare in seinem Stück „Coriolanus“ (dritter Akt, erste Szene): Was ist die Stadt anderes als die Menschen, die in ihr leben? 4. Mai 2019, 17:00 Uhr: Ein langer, gelber Laufsteg führt mitten über den Rathausplatz von Recklinghausen, am Kopfende eine große Projektionsfläche: „What Is the City but the People?“. Eine Mischung aus Installation, Theater und Konzert. Nach einer genauen Partitur präsentieren rund 100 ausgewählte Bürgerinnen und Bürgern aus Recklinghausen auf dem Laufsteg vor den Augen der Besucher sich und ihre ganz eigenen Lebensgeschichten. In kurzen Texten, großformatigen Videobildern, zu den Beats des international erfolgreichen, aus Recklinghausen stammenden DJ Moguai. So entstand das berührende Selbstportrait der Ruhrfestspielstadt, eine Hommage an die Menschen, die diese Stadt mit Leben füllen. Ein vielschichtiges, überraschendes, buntes Gebilde. Große ungenutzte Potentiale scheinen auf. Wie gut könnte die Gesellschaft einer Stadt mit solchen Menschen funktionieren?

2020 mussten die Ruhrfestspiele aufgrund der Coronapandemie abgesagt werden. Diese Lücke wollten wir nicht einfach überspielen, indem wir Teile des Programms kurzfristig in das Digitale verlegen. Sondern wir wollten, ganz im Gegenteil, diese Lücke gerade sichtbar machen, als Wunde offenhalten. Wir wollten ein künstlerisches Zeichen setzen: Für den Zeitraum der ausgefallen Festspiele realisierten wir das von dem französischen Fotografen JR initiierte „Inside Out Project“. Ein Aufruf wurde gestartet, sowohl an die Besucher und Besucherinnen als auch an die Künstlerinnen und Künstler, uns ein einfaches Portraitfoto von sich zuzusenden, um Teil der Ruhrfestspiele und des „Inside Out Projects“ zu werden. Schließlich hingen rund achthundert großformatige schwarz-weiß Fotografien der Besucher*innen und Künstler*innen weithin sichtbar im öffentlichen Raum, an der Glasfassade des Ruhrfestspielhauses. Die Porträts traten an die Stelle der ausgefallenen Festspiele. Eine Art Mahnmal. Sie veranschaulichten nicht nur das Nichtstattfinden, das Ausfallen der Ruhrfestspiele, sondern erinnerten zugleich an die Menschen, für die Kunst ein wesentlicher Teil ihres Lebens ist. Die Porträts an der Fassade des Ruhrfestspielhauses erzählten davon, welche unterschiedlichen Menschen in diesen Wochen bei den Ruhrfestspielen zusammengekommen wären, um gemeinsam Theater, Tanz, Performance, Literatur und Neuen Zirkus zu erleben.

The people of

People of … Recklinghausen Süd

Ein Audiospaziergang entlang der Bochumer Straße in Recklinghausen Süd. Koproduktion mit Quarantine, Manchester

Die Bochumer Straße in Recklinghausen Süd ist ein Ort mit viel Vergangenheit, ein Knotenpunkt des Alltags, ein Ort, an dem sich Menschen und Geschichten kreuzen und zusammenlaufen. Der Audiospaziergang „The people of … Reckinghausen Süd“ des Manchester Künstlerensembles Quarantine sammelt die vielfältigen Stimmen der Menschen, die an diesem Ort arbeiten, diesen Ort erst lebendig machen. „The people of … Recklinghausen Süd“ lädt dazu ein innezuhalten, genauer hinzusehen und zuzuhören. Rund um die Bekleidungsgeschäfte, Friseure, Kioske, Bäckereien, die Moschee. „The people of … Recklinghausen Süd“ blickt auf Realitäten, die unser tägliches Leben formen. Die Routinen des Alltags: arbeiten, einkaufen, essen, soziale Kontakte pflegen. Und auf die Geschichten aus der Vergangenheit der Orte, die vielleicht verblasst, aber nie verschwindet, die sichtbar bleibt an Mauern und auf den Bürgersteigen – und in den Köpfen der Meschen. Wie entsteht öffentlicher Raum, wie bewegen wir uns in ihm? Wie bilden sich Gefühle von Identität und Zugehörigkeit?

Das Publikum sind wir selbst. Wir selbst sind das Publikum. Wir möchten voneinander wissen. Wie werden einander brauchen. Für die Zukunft.

Bildnachweise: Foto: Siegersbusch, Videos: Ruhrfestspiele/Quarantine, Schwarz-Weiß-Fotografien Slide: Christian Winther, Hans Rudolf Uthoff, Daisy Steinbeck, Bildstelle des DGB, Hans Ahlborn, Farbfotografien: Siegersbusch, Luitgard Nolte, Reiner Kruse, Quarantine.